Nimmt man die Gattung Roman als Maßstab, ist Die Schattenlinie“ ein verhältnismäßig dünnes Buch. Und doch gehört es zu den gewichtigsten und komplexesten Erzählungen überhaupt. Der Superlativ sollte niemanden verwundern. Verfasst wurde der Roman immerhin von einem der ganz Großen der Weltliteratur: Joseph Conrad, dem kein geringerer als ein Thomas Mann einmal attestierte, er sei der größte Autor des 20. Jahrhunderts.

Äußerlich besehen, handelt es sich bei dem 1917 erschienenen Meisterwerk um einen Abenteuerroman. Geschildert werden die dramatischen Erlebnisse einer Schiffsbesatzung, deren aller Leben durch existenzielle Probleme wie Krankheit und ein außergewöhnliches Wetterphänomen bedroht wird. In seiner inneren Anlage aber ist das Buch dem Bildungsroman verpflichtet. Conrad erzählt hier – wenn man so will – die Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mannes, der erwachsen wird.

„Schattenlinie“ hinter sich lassen

Der Protagonist, ein junger Kapitän, macht einen Reifeprozess durch, der ihn von einer Lebensstufe in die nächste befördert. Dazwischen liegt Die Schattenlinie, die der Prüfling zu überqueren hat, um gerüstet zu sein für das Leben und seine Herausforderungen. Doch was bezeichnet diese „Schattenlinie“ genau? Sie meint nichts anderes als einen Lebensabschnitt, die kurze Phase der Jugend nämlich, die geprägt ist von Langeweile, Verdruss und unbedachten Momenten, wie es im Buch heißt.

Einen solchen unbedachten Moment hat auch der Kapitän, dessen Namen im Roman nicht genannt wird. Aus jugendlichem Übermut mustert er eines Tages von einem britischen Handelsschiff ab, wo er immerhin den Posten eines Ersten Offiziers innehat, um in einem Seemannsheim eine Zeit der Langeweile und des Verdrusses zu erleben. Diese Phase wird er bald hinter sich lassen – und es spricht für Conrads Weltanschauung, dass dieser Schritt nicht die Folge von Reflexion und Introspektion ist.

Vielmehr braucht es eines äußeren Anlasses, um die „Schattenlinie“ zu überqueren. Im Roman sind es die Malaria-Erkrankung und die andauernde Windstille, die die Matrosen zugrunde zu richten drohen – an denen der Kapitän andererseits seine Persönlichkeit schleifen wird. Ja, am Ende wird der ungestüme, stolze Grünschnabel die Hürden überqueren, indem er aus der Naivität der Jugend in das verantwortungsvolle Leben eines Erwachsenen hineinwächst.